Bild eines Zombies

Auf einen groben Klotz gehört ein feiner Keil

„Höflichkeit ist die beste Beschützerin der persönlichen Unabhängigkeit, Grobheit der gemeine Ausdruck kraftloser Brutalität.“

Zitat von Georg Baron von Örtzen

Viele Wortmeldungen im Internet geschehen im Affekt, von jetzt auf gleich, ohne zu überlegen, vor allem aber ohne den anderen im Blick zu haben. Die Verletzlichkeit des Gegenübers, seine Sensibilität, seine Gefühle, sie werden missachtet. Dass man die anderen nicht sieht, sie nicht hört, sie nicht spürt, das macht es leicht, ohne Rücksicht zu agieren.

Das alles ist keine neue Erfahrung. Daher wurden bereits vor rund einem Vierteljahrhundert Regeln für den Umgang in Netzwerken aufgestellt, also zu einer Zeit, als Social Media noch kein Begriff war und das World Wide Web in den Anfängen steckte. Was damals als Netiquette formuliert wurde, galt ursprünglich fürs Usenet, eine Art schwarzes Brett im Internet, in dem sich die Teilnehmer zeitversetzt über alle möglichen Themen in verschiedensten Bereichen austauschten. Damals schon erkannte man die Gefahr, die aus der Entmenschlichung der Netzwerke erwachsen kann. Und so hieß und heißt der Grundsatz der Netiquette: „Vergiss niemals, dass auf der anderen Seite ein Mensch sitzt.“ Doch wie so oft gilt auch hier: Die Notwendigkeit, eine Regel aufzustellen, zeigt, wie leicht und oft sie verletzt wird.

Die verbale Keule

Da hauen wildfremde Menschen mit der verbalen Keule aufeinander ein, sagen sich die Meinung, um die sie niemand gefragt hat, und entfernen sich Wort für Wort von allem, was man unter gesellschaftlichen Stil verstehen kann.

Ganz offensichtlich zieht die Digitalisierung eine neue Brutalität der Meinungsäußerung nach sich. Ob Social Media, Diskussionsforen oder Verkaufsplattformen, Höflichkeit der Ansprache und Freundlichkeit im Ausdruck sucht man oft vergeblich. Wer etwas zu sagen hat (und auch wer nichts zu sagen hat), tut dies unmissverständlich scharf und ohne Umweg kund, grad so wie es ihm durch den Kopf geht und über die Finger läuft. Dabei vergreift sich mancher gern im Ton, oft in einer Art und Weise, die man sich beim direkten Zusammentreffen nicht erlaubte. Wer sich solch barscher Worte bedient, würde Angesicht zu Angesicht die Grenze der Gewalt in Wort und Ton überschreiten.

Der sprachliche Affront

Ob politische Positionen, gesellschaftliche Einstellungen, fremde Lebensweisen oder einfach die Einschätzung von Produkten oder Dienstleistungen, dem sprachlichen Affront scheinen thematisch keine Grenzen gesetzt zu sein. Nichts, was nicht als Aufreger dienen könnte und nichts, was sich nicht dazu eignete, andere zu mobilisieren. Selbstverständlich gibt es spezielle Aufregerthemen wie Tierschutz, Ernährung und das Verhältnis von Männern und Frauen. Hass und Häme quillt aus extremen politischen Lagern und Haltungen und zielt auf alles, was sich bewegt, ob Jäger, Fleischesser, Bauern oder ganz einfach Mitmenschen, halt ganz normale Teilnehmer im Netz, ohne ideologische Blickverengung. Dazu kommen Hersteller und Händler und wer sonst noch so im Internet und auch darüber hinaus seinen Geschäften nachgeht.

Kurz: Wer im Netz existiert ist auch schon potentielles Opfer der Gesinnungsjäger, Trolls und Affekttäter. Was aber, fragt man sich, macht diese Menschen, die im Alltag offensichtlich völlig unauffällig neben uns in der Straßenbahn sitzen oder vor uns an der Kasse stehen, die unbemerkt als Kollegen durch die Flure streifen und nie ein böses Wort an uns oder andere richten, im Internet plötzlich zu Kampfmaschinen.

Warum verbreiten sie haltlose Gerüchte? Warum plaudern sie intime Informationen aus Unternehmen und von Bekannten aus? Warum bedrohen sie Leute und treiben Menschen in die Verzweiflung? Warum verstecken Sie sich hinter Scheinidentitäten oder übernehmen fremde Namen?

Die Antwort ist einfach: Weil es geht.

Das Machbare ausschöpfen. So simpel diese Erklärung ist, so bitter ist sie. Zeigt sie doch, dass es keine echte argumentative Ebene gibt, um den Angreifern fundiert beizukommen. Unter dem Tarnmantel der Anonymität agieren sie völlig ungehemmt, so wie Unsichtbare die durch den realen Alltag echter Menschen streifen, hier ein Bein stellen, da einen Stoß geben, dort jemanden verbal vergewaltigen und stets ihre Lebensenergie aus der Verzweiflung ihrer Opfer schöpfen. Sie agieren aus dem digitalen Hinterhalt, aus dem Verborgenen der fiktionalen Existenz, in der sie sich nicht der Konsequenz ihrer Handlungen stellen müssen.

Zombies im Cyberspace

Das verzweifelte Gegenüber hat für die Täter keine erkennbare Mimik, so wie ihre eigenen Gesichter keine Mine verziehen, die sich nicht auf ein Emoticon schrumpfen ließe. Die Ferne des echten Lebens macht sie zu Gefühlskrüppeln einer imaginären Welt, ohne dass sie die Konsequenzen ihres Handelns erkennen könnten. Besonders fatal aber ist, dass sich diese Gemeinschaft instinktloser Schrumpfköpfe so leicht instrumentalisieren lässt.

Mit ein paar pointierten Sätzen, haltlosen Vorwürfen oder geschickt verteilen Anreizen hetzt der Führer aus dem Hinterhalt die Cyberspace-Zombies wie die Meute aufs Wild, löst eine wilde Hetze auf beliebige Opfer aus. Solche Techniken instrumentalisierter Netzjagden sind gang und gäbe bis hin in die hohe Politik, wie zuletzt die Wahlkampfstrategien im Amerika, aber auch in Österreich gezeigt haben. Dort, wo Interessen von Akteuren enthemmt und Empathie für das Gegenüber verfolgt werden, verkommen Social Media zum asozialen Netzwerk, und aus virtuellen Räumen werden klaustrophobischen Szenarien und Echoräume der Hetze.

Ein Appell: Netzwert der Weltbürger

Viele der Angegriffenen haben weder die Kraft noch das Selbstbewusstsein, der ent-emotionalisierten Kommunikation standzuhalten. Daher gilt es für alle als Maxime, auch im Internet die Augen offen zu haben und dort, wo es nötig ist, belästigten und bedrohten Netizen mit deutlichen Worten beizustehen. Jeder von uns sollte stets die Mitmenschen am anderen Ende der Kabel vor Augen haben.

Nur mit Mut und Solidarität, einem gesunden Selbstwertgefühl und der nötigen Eigenverantwortung kann der Entmenschlichung im Internet entgegengetreten werden. Lassen wir die Hater und Flamer höflich und freundlich und unbeachtet ins Leere laufen und kümmern wir uns um jene, die uns etwas zu sagen haben. Denn wie sagte schon Sir Francis Bacon im sechzehnten Jahrhundert: „Wenn ein Mensch gütig und höflich ist, beweist er, dass er ein Weltbürger ist.“


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